LA DOLCE MORTE: Vernacular Cinema and the Italian Giallo Film
Autor: Mikel J. Koven
Taschenbuch: 206 Seiten
Verlag: Scarecrow Pr Inc (30. Oktober 2006)
Sprache: Englisch
ISBN-10: 0810858703
ISBN-13: 978-0810858701
Preis: z.Zt. 4,-- € bei amazon.co.uk
Wie bereits im Vorfeld angemerkt, handelt es sich bei Mikel J. Kovens Werk weniger um ein Standard-Filmbuch (und erstrecht um kein Nachschlagewerk herkömmlicher Art), sondern vielmehr um eine sehr fundierte filmwissenschaftliche Abhandlung zum Thema Giallo. Ich vermute sogar, dass es sich ursprünglich um eine Magister- oder Doktorarbeit handelte, die später veröffentlicht wurde – zumindest aber um ein Werk, das sich primär an Filmgelehrte und Filmstudenten richtet. Koven selbst verdient sich seine Meriten als Dozent an der University of Wales in Aberystwyth und hat bereits mehrere Publikationen im Bereich „Ethnologie und Film“ vorgelegt.
Seine akademische Herkunft erklärt somit auch die gewählte Herangehensweise an das Sujet. Sein Ausgangspunkt ist nämlich in erster Linie ein ethnologischer.
Im ersten Kapitel liefert er zunächst eine grobe Erklärung des Genres (im weiteren Verlauf als
Filone bezeichnet, dem italienischen Begriff für Genrefilme), indem er zwischen Gialli, Krimis, Poliziotteschi und den später daraus resultierenden Slasherfilmen unterscheidet. Auch arbeitet er den Unterschied zwischen verschiedenen Giallo-Stilen heraus, die er als Suspense-Giallo (z.B. PROFONDO ROSSO), Detective-Giallo (DER SCHWARZE LEIB DER TARANTEL) und Giallo-Fantastico (PHENOMENA) klassifiziert.
Im Folgenden richtet er seine Aufmerksamkeit auf das archetypische Zielpublikum und den ethnisch-kulturellen Background. Hier erläutert er erstmals den von ihm geprägten Begriff des
Vernacular Cinema, was soviel wie heimatverbundenes oder volkstümliches Kino bedeutet. Das primäre Publikum der italienischen Genrefilme der 60er und 70er Jahre bezeichnet er als sogenannte
Terza Visione – Zuschauer. Darunter versteht er ein Publikum, das sich zum Hauptteil aus Angehörigen der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse zusammensetzt. Dieser Zuschauertypus geht nicht ins Kino, um in kontemplativer Versenkung einen Film zu rezipieren, sondern will in erster Linie Unterhaltung und Zerstreuung vom Alltagsgeschehen, die bestenfalls in Form von unmittelbaren, kraftvoll vermittelten Emotionen dargereicht wird – Sex, Gewalt und gute Laune.
Kleiner Exkurs:Da ich selber einen Großteil meiner Kindheit und Jugend in Italien verbringen durfte, kann ich Kovens „Theorie“ hundertprozentig bestätigen. Die Lichtspielhäuser glichen (vor allem im Süden, wo es hauptsächlich Freiluftkinos gab) eher Begegnungsstätten, wo sich vorwiegend Männer trafen, um für eine Handvoll Lire etwas zu erleben und den Alltag für ein paar Stunden zu vergessen. Die Abspielstätten waren „Non Stop“-Einrichtungen, wo an einem Abend derselbe Film dreimal hintereinander gezeigt wurde. Einlass war um 19 Uhr, Sperrstunde um 1 oder 2 Uhr morgens. Manchmal wurden auch Doppelvorstellungen gegeben, um für mehr Abwechslung zu sorgen. Wichtigster Anlaufpunkt war die Bar oder häufiger das Verkaufsbüdchen (bancarelle), wo man sich mit Süßigkeiten, Popcorn, Knabberwerk oder Softdrinks versorgen konnte. Alkohol wurde kaum oder gar nicht konsumiert – Wein trinkt man fast in ganz Italien nur zum Essen, oft mit Wasser verdünnt. Am
bancarella gab es auch
fumetti neri, und wer wollte, konnte sich hinterher den zum Film passenden Schundcomic mitnehmen, wie
Diabolik, Satanik oder härterer Tobak wie
Oltretomba.
In diesen Kinos war vor allem Freiraum für Bewegung. Oft nahmen die Besucher ihre plätze erst gar nicht ein, standen in wild diskutierenden Grüppchen im Kino herum und richtetet ihre Aufmerksamkeit nur dann auf die Leinwand, wenn es „zur Sache“ ging. Also dann, wenn die „niederen Instinkte bedient wurden“, wie es der Katholische Filmdienst immer so schön ausdrückte.
Freiraum ist immer auch gleichzusetzen mit Freiheit und dem Raum, sich zu artikulieren, zu Kommentaren, spontanen Gefühlsäußerungen, kurz: zur Selbstentfaltung und Interaktion. Eine kollektive Bewertung, eine Deutung der Geschehnisse auf der Leinwand, passierte "ad hoc" als gruppendynamisches Ereignis. Diese Tendenz erklärt auch die Natur und Struktur typischer italienischer Genre-Produktionen, die Paradebeispiele für Filmunterhaltung in den deutschen Bahnhofskinos darstellten – dem Äquivalent der italienischen
Terza Visione-Kinos.
Für viele Italiener aus dem „einfachen Volk“ gehörte der tägliche (!) Kinobesuch zum festen Abendprogramm. Kinder und Jugendliche waren stets dabei, denn niemand kümerte sich um Altersfreigaben oder Jugendschutz. (Ich selber habe Anno 1977 im zarten Alter von neun Jahren z.B. neben einigen Bava-Werken den Film LA CASA DALLE FINESTRE CHE RIDONO gesehen, der damals eine ziemlich verstörende Wirkung auf mich ausübte. Die Eröffnungssequenz sorgte jedenfalls noch für anhaltende Alpträume…)
Nach dieser profunden und ausführlichen Analyse der italienischen soziokulturellen Sehgewohnheiten, wendet der Autor Mikel J. Koven sich dem Filone des Giallo im Speziellen zu. Es folgen verschiedene Untersuchungen, wie
• „Space and Place in Italian Giallo Cinema“ – Eine Studie über diverse genretypische Locations, Landschafte und Orte; Urbanes Setting contra Dörfliches; Die Rolle der Großstadt und ihrer Figuren, etc. Unter anderem widmet er hier einen ausführlichen Abschnitt der inflationären Verwendung von J&B-Whiskey, speziell im Giallo, den ich äußerst interessant und aufschlussreich fand!
Am Ende des Kapitels gelangt Koven übrigens zu der Schlussfolgerung, der Giallo thematisiere in fiktiver Maskierung den Konflikt zwischen der Moderne und dem (reaktionären, fortschrittsfeindlichen) Traditionalismus in Italien – eine Hypothese, die ich faszinierend, aber zumindest für diskussionswürdig halte.
• „Murder and Other Sexual Perversions“ – Nomen est Omen! Hier widmet sich Koven den Mordtaten und den ihnen innewohnenden Fetischismen und sexuellen Obsessionen. Schwarze Handschuhe, Leder- und Gummimäntel, Masken, Sadismus, Masochismus. Es geht auch um die verschiedenen Mordwaffen und deren psychologische Bedeutungen – das „phallische Messer“ oder das „vaginale“ Säurebad, der Sturz in den Abgrund als Metapher des „Fall from Grace“, der Tod durch Erwürgen oder Ersticken, die genitale Verstümmelung. Ebenso wird die Rolle des Opfers diskutiert – das zumeist weibliche oder das kindliche (unschuldige) Opfer. Sehr erhellend!
• „Watching the Detectives“ – Hier geht es um die Rolle des „Amateurdetektivs“, der in Gialli häufig die Arbeit der (unfähigen oder im Dunkeln tappenden) Polizei übernimmt. Koven stellt anhand von verschiedenen Filmbesispielen den oftmals ähnlichen sozialen Background dieser Ermittler wider Willen heraus. Außerdem geht es in diesem Kapitel um den investigativen Giallo (Detective-Giallo), in dem die ermittelnde Arbeit eine größere Rolle spielt. Er behandelt die Technik des Hitchcock´schen McGuffin in Gialli, die „Roten Heringe“, die Deus Ex Machina-Fälle, die Helfer von Außen und die üblichen Verdächtigen.
• „The Killer´s Identity“ – Eine tiefschürfende Untersuchung über die giallotypischen Muster und Strukturen, die zur Aufdeckung der Verbrechen und zur Ergreifung des Täters führen. Dem Titel des Kapitels entsprechend, spoilert Koven hier nach Herzenslust. Der Höhepunkt hierbei ist EIN EINZIGER Satz, in dem er die Identität der Mörder aus DREI Filmen preisgibt (und analysiert)! Für Kenner ist das sehr interessant zu lesen, (noch) Unwissende wird es mit Zorn erfüllen. Es geht u.a. darum, welche Beziehung der Killer zu Opfer und Amateurdetektiv hat, wie das Rätsel um seine Identität jeweils aufgelöst wird, welche Tarnung er benutzt, welche Beweggründe ihn zum Mord treiben.
• „Weird Science: The Ambiguity if Belief in the Giallo“ – Hochinteressantes Kapitel über „Grenzwissenschaft“, zeitgenössische Pseudo-Wissenschaften (Beispiel: Das vor dem Tod zuletzt Gesehene verbleibt als Abbild auf der Retina des Auges -> QUATTRO MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO) , Aberglaube und Urban Legends im Giallo.
• „A Perverse Sublime: Excess and the Set Piece“ – Eine eingehende Analyse über den (filmischen und dramaturgischen) Aufbau der Mord- und Spannungsszenen einzelner Filme. Beispiel: Verwendung von Zooms, farblicher Verfremdung oder extremen Groß- bzw. Detailaufnahmen.
• „The Giallo as Cinema of Poetry“ – Basierend auf Pasolinis Theorie des „Poetischen Kinos“ untersucht Koven den Giallo als Beispiel dieses filmischen Stils und lässt auch die zahlreichen Gegner dieser Theorie zu Worte kommen, die im Giallo reines Unterhaltungskino für den kleinen Mann sehen wollen.
• „From Giallo to Slasher“ – Schlusslicht bildet diese sehr sorgfältige Untersuchung, in der Gialli und Slasherfilme verglichen und die Unterschiede beider Genres herausgearbeitet werden.
Abschließend ist zu resümieren, dass Mikel J. Koven ein absolut einzigartiges und faszinierendes Werk zum Giallo verfasst hat, das für Liebhaber des Genres unverzichtbar ist und eine perfekte Ergänzung zur Pflichtlektüre BLOOD AND BLACK LACE von Adrian Luther Smith darstellt.
Leider gibt es aber auch den ein oder anderen Wermutstropfen zu vermelden:
- Als erster und wichtigster Minuspunkt wäre hier Kovens hemmungslose Spoilerei anzuführen. Selbstverständlich bringt die Herangehensweise des Autoren es automatisch mit sich, dass er Inhalte und Auflösungen preisgeben muss. Alle Leser, die (wie ich) sämtliche im Buch besprochenen Filme mehrfach gesehen haben, dürften an Kovens vielschichtigen und sorgsamen Analysen ihre pure Freude haben; Frischlinge im Genre, die sich die Gialli selber erschließen und für sich entdecken wollen, werden bei der Lektüre vor Wut im Quadrat hüpfen – denn danach gibt es keine Geheimnisse mehr.
- Des Weiteren ist das Buch nur denjenigen Lesern zu empfehlen, die der englischen Sprache mehr als nur halbwegs mächtig sind. Kovens Texte sind anspruchsvoll und wimmeln von Fremdwörtern. Als Beispiel hier ein Satz, der zu den deutlich leichter verständlichen und eher kurz gehaltenen Exemplaren zählt: „The social result of seeing the giallo as vernacular cinema appears to move toward a partial integration of these ambivalences toward modernity into the hegemonic life of the audience.“ (S.80)
- Als gewisses Manko empfinde ich auch Kovens Schreibstil als solchen. Da sein Werk ein filmwissenschaftlicher, empirischer Text ist, glänzt es mit der völligen Abwesenheit jeglichen Humors. Hier ist ein Akademiker an der Arbeit, kein Erzähler. Wer also auf die flotte und flapsige Feder eines Christian Kessler steht, sollte hiervon besser die Finger lassen. Koven schreibt staubtrocken, unprosaisch und eisern sachlich. Seine Leidenschaftslosigkeit mag mit einem simplen Umstand zusammenhängen: Ein glühender Fan des Giallo scheint er nicht zu sein.
- Und, zu schlechter Letzt, für alle Leute, die Bilderbücher gern haben: damit ist Pustekuchen. Auf den 206 eng beschriebenen Textseiten gibs keine einzige Illustration.
Trotzdem ist das Buch alles in allem eine klare Empfehlung, das in jedes gut sortierte (Film-)Buchregal gehört, weil es auf sehr sorgfältige und einzigartige Weise ein unterschlagenes Genre behandelt und auf allen Ebenen Vertiefung in diese Materie bietet. Der ein oder andere Fan wird seine Gialli danach vielleicht aus einer neuen Perspektive anschauen.